Sonntag, 15. Juni 2025

Räume der Gnade

Von aufrechten Frauen und heilenden Begegnungen

Eine Predigt zu 2.Kor 13,11-13, die ich vor 6 Jahren mal mit Anne Gideon zusammen errungen habe, nachdem wir mit der großartigen Nadia Bolz-Weber in Berlin gearbeitet haben. Ich habe sie nun neu aktualisiert. Und Formulierungsideen von Katharina Loh für Teil III sind auch wieder dabei.

I.

Endlich wieder aufrecht gehen. (1)
Endlich wieder dazu gehören. Auf Augenhöhe den anderen begegnen.
Sie hätte es nicht für möglich gehalten.
18 Jahre lang diese Verkrümmung. 18 Jahre gebückt und geduckt sein.
Von den anderen komisch angeschaut. Sich ausgeliefert fühlen.
Nicht mitmachen können. Nichts dagegen tun können. 
18 Jahre lang. Und von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer.

Dann betritt Jesus die Synagoge. 
Du bist frei, sagt er zu ihr. Du bist frei. Nichts mehr, was dich niederdrückt. 
Nichts mehr, was dich fesselt. Nichts mehr, was dich klein macht.
Und sie richtet sich auf.

Diese Dämonen können sie mal.
Sie sind vielleicht immer noch da:  die Dämonen, die sie niederdrückten
- bestehen sie aus Angst oder Traurigkeit, Vorurteile oder Missachtung? Wer weiß das schon? - 
Aber sie tun ihr nichts mehr. Nichts mehr, was sie beugt.
Die Dämonen haben nicht das letzte Wort.
Sondern: Gnade und Liebe.  Und Gemeinschaft. Endlich wieder richtig dabei.

II.
Worte von Paulus, die er am Schluss seines 2.Briefs an die Korinther schreibt:
Zuletzt, Brüder und Schwestern,  freut euch, 
lasst euch zurechtbringen, lasst euch mahnen, 
habt einerlei Sinn, haltet Frieden! 
So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein.
Grüßt euch untereinander mit dem heiligen Kuss. 
Es grüßen euch alle Heiligen.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus 
und die Liebe Gottes 
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!


III.
Paulus schreibt diese Worte am Ende eines verzweifelten Briefes.
Schon früh gab es Probleme in Korinth.
Streit darüber, wer besser glaubt und besser predigt und wie man Abendmahl feiert.
Ja, und wieviel Rücksicht man nehmen muss.
Wer sind die Schwachen und wer sind die Starken?
Und wer bestimmt, wer dazu gehört?
Es wurde immer schlimmer. Lästereien und Kritik - 
auch am Leitungsstil von Paulus.
Und was einmal wichtig war, gerät in den Hintergrund.

Bei sowas hilft eigentlich nur ein klärendes Gespräch. 
Am besten persönlich. 
Doch das geht gerade nicht. 
Also ein Brief.

Darin verteidigt Paulus sich:
„Ich habe niemandem Unrecht getan, niemanden verletzt, niemanden übervorteilt.“
Und er droht: „Wenn ich das nächste mal komme, dann hört der Schongang auf.“
Und man hat das Gefühl: so wird das nichts.
Verteidigung, Angriff, Emotionen, Tränen auch, wild gestikulieren, mit der Hand abwinken.
Das hat keinen Zweck. Komm hör auf.

Paulus argumentiert gern eindringlich. 
Wie man das gern mal tut, wenn man sich in die Enge getrieben fühlt. 
Er bleibt nicht immer ganz sachlich, das kann er gar nicht. 
Aber er schreibt. Und bleibt in Beziehung.
Heiliger Kuss – so schmeckt vielleiccht Versöhnung. 
Und er ringt darum, wie er von Gott erzählen soll. 
Gnade. Liebe. Gemeinschaft.

IV.
Paulus, du selbst weißt, wie sehr du die Gnade brauchst und die Liebe und die Gemeinschaft.
Du weißt um deine Ecken und Kanten.
Was dir schwer fällt. Was du nicht kannst, auch wenn du es noch so sehr willst.
Du ist nicht der Super-Apostel, nicht der strahlende Redner.

Und dass du gesundheitlich angeschlagen ist, verschweigst du auch nicht. (Gott sei Dank!)
Fragen quälen. 
Bist du überhaupt dieser Aufgabe gewachsen? Müsstest du nicht viel öfter vor Ort sein?
Manchmal denkst du, du solltest deine Zunge besser im Zaum halten.
Vielleicht hast du doch zu viele vor den Kopf geschlagen?

Und dann erinnerst du dich: Gott ist in den Schwachen mächtig.
"Gott macht noch aus meinem größten Mist etwas Schönes." (2)
Die Letzen werden die Ersten sein. Aus dem Senfkorn wird ein großer Strauch.
Die gekrümmte Frau kann aufrecht gehen und der Gekreuzigte steht auf.
Jesus teilt sein Brot mit Verrätern, Feiglingen und Karrieresüchtigen.
Sie alle liebt er. Und in dieser Liebe werden sie neu. Sehen sich selber neu.

Ja, Paulus, du musst nicht mehr um deinen Ruf kämpfen, denn bei Gott ist er gut.
Du brauchst das nicht mehr und entdeckst vielleicht auch die Verletzungen der anderen.
Auch sie brauchen den gnädigen und liebevollen Blick. Nicht nur du. Und das spürst du genau.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit dir!

V.
Vor 10 Jahren stand ich mit einer faszinierenden Frau auf der Bühne beim Kirchentag in Stuttgart. 
Nadia Bolz-Weber. Eine lutherische Pastorin aus Denver, Colorado. 

Ich hatte bis dahin noch nichts von ihr gehört, aber sie hat mich sofort in den Bann gezogen. 
Ihre Tattoos, ihre großen Ohrringe, ihr ausdrucksstarkes Gesicht. 
Und vor allem ihre einfache Sprache. 
(Mein Englisch ist nicht so gut, aber bei ihr verstehe ich jedes Wort!)
Später habe ich ihre Bücher gelesen und dann vor 6 Jahren in Berlin intensiver kennenlernen dürfen.


Warum erzähle ich von ihr?
Nadia kommt aus einer christlichen Kirche, die keine Frauen ordiniert.
Erst mit 27 hat sie erlebt, dass eine Frau im Gottesdienst überhaupt das Wort ergreift.
In ihrer Kirche durfte man nur innerhalb der Ehe Sexualität leben. 
Und so war sie - so erzählt sie - als Jugendliche, als junge Erwachsene zornig. Sehr zornig.
Hat getrunken, Drogen genommen und sich viel gestritten. 
Sie glaubte: So bin ich stark. Ich verletze und zeige nicht, wie verletzt ich bin. 

Seitdem ist viel passiert. Sie hat Gnade erlebt. Den Kuss der Gnade gespürt.
Ihr Körper gehört nun zu ihr, Liebe und Sexualität auch. 
Sie hat gelernt, sich aufzurichten. Aufrecht zu gehen. Sie ist groß und trägt hohe Schuhe. 
Sie predigt mit kurzärmeligem Hemd und jeder kann ihre bunttätowierte Haut sehen. 
Das fühlt sich nicht wie Show an. Sondern so ist sie. Sie versteckt nichts. 
Sie zeigt sich, ihre Tränen, ihre Wut. Nicht damit jeder sie dann wichtig findet,
sondern so kann jede und jeder seine eigenen Tränen, ihre eigene Traurigkeit empfinden. 
Und ist darin aufgehoben: Ein Raum der Gnade.

Wenn Nadia über Gott und Glauben redet, klingt das wie ein Überlebensmittel. 
Und wie etwas, was unglaublich viel größer ist als sie, was sie aber nicht kleinmacht. 
„House of all Sinners and Saints“ – "Herberge für alle Sünder und Heiligen" 
So heißt die Gemeinde, die sie gegründet hat. 
Wer da kommt, war oft lange verkrümmt und lernt gerade, sich aufzurichten. 
Wer da kommt, lernt es neu, an Wunder zu glauben. Und sich selbst zu lieben.

VI.
Und darum erzähle ich so viel über Nadia: 
Denn das ist es, was wir als Kirche, ja, was unsere Welt braucht: Räume der Gnade. 
Räume, in denen wir lernen, uns selbst zu lieben.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes ist mit Nadia und ist mit uns allen.

Gnade ist Heilwerden und die Sehnsucht danach.
Gnade ist die Möglichkeit, dass es auch gut gehen könnte. 

Gnade ist, dass Gott da ist. Ganz nah. Am Herzen.

Gestern auf dem CSD verteilten wir wieder unsere Segensbänder: "Ich bin wunderbar gemacht."
Ich sah Stirnrunzeln, zuckende Mundwinkel und Tränen in den Augen, wenn wir sie anlegten. 
Meinst du wirklich mich? Die Kirche sieht mich? 
Du segnest mich, die doch von so vielen Christen als Sünderin bezeichnet werde?

Ja, dich segne ich. Dir sag ich zu, dass du Gottes geliebtes Kind bist, so wie du bist. 
Du bist wunderbar gemacht
!
Und so haben wir auf dem Marktplatz in der prallen Sonne und bei lauter Musik 
einen Raum der Gnade geschaffen.
Einen Raum am Herzen Gottes.

VII.
Und auch hier ist der Raum der Gnade. Hier und heute an Trinitatis.
Und zusammen öffnen wir diesen Raum zum Herzen Gottes.
Und sagen: Die Gnade ist mit dir.

Die Gnade ist mit dir, 
die du dich selber nicht leiden kannst.
Gott macht aus deinem größten Mist noch was Schönes:
Aus deiner Inkonsequenz und deiner Wut, aus deiner Angst vor der Zukunft 
und aus deiner Angst vor Fremden und queeren Menschen vielleicht auch.

Gnade sei mit dir,
wenn du mal wieder frustriert bist, dass du nicht so viel geregelt kriegst wie die Nachbarin,
wenn du mit deinen Kindern nicht klar kommst,
wenn du genervt bist von deinen Eltern oder sie sogar hasst.

Gnade sei mit dir,
wenn du nicht die passenden Klamotten hast,
wenn du dir den Kaffee beim Starbucks nicht leisten kannst
oder wenn sich andere an deiner Hautfarbe stören.

Gnade sei mit dir in dieser ungnädigen Welt.
Jesus richtet dich auf. Denn du bist geliebt. Ja genau du!

Jesus nimmt dich mit in den Raum aus Gnade und Liebe.
Mit Nadia und der verkrümmten Frau 
und den vielen Menschen, die gestern dieses Armband bekommen haben.

Der Raum aus Gnade und Liebe - er ist so groß, so riesig,
da sind auch die, mit denen du nicht rechnest. Vermutlich rechnen sie auch nicht mit dir.
Aber Gott macht aus eurem ganzen große Mist was wirklich Schönes.
Und ihr werdet heil mit ihm.

Amen

(1) Dieser Teil bezieht sich auf die Lesung aus Lukas 13,11-17 (Heilung der gekrümmten Frau)
(2) Nadia Bolz-Weber, "Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen" - Pastorin der Ausgestoßenen, S. 76

Dienstag, 22. April 2025

Eine große Sause

Kaschnitz und Jesaja und das Leben nach dem Tode

Predigt am Ostermontag*

I.
Glauben Sie fragte man mich

An ein Leben nach dem Tode

Und ich antwortete: ja.


Und ich stimme Marie Luise Kaschnitz zu:
auch ich glaube an ein Leben nach dem Tod.
Glaube, dass Jesus auferstanden ist und dass ich auferstehen werde.

Gestern morgen auf dem Wallberg in der Morgensonne.
Ich höre von weggerollten Felsen,  die das Grab verschlossen haben
und nun den Weg frei geben. 
Und von dem sauber zusammengelegten Schweißtuch des Auferstandenen,
das zeigt, dass was Neues beginnt.
Ich singe gerne die Osterchoräle.
Das Jubeln fiel mir gestern leicht, auch wenn die Stimme noch müde war.
Das Herz war warm. Die Augen klar gewaschen.
Wir sprachen von Osteraugen. Genossen den neuen Morgen. Frohe Ostern.

Ja, ich glaube, dass Jesus auferstanden ist.
Und die Kraft des Auferstandenen stärker ist als alle Bosheit.
Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Ja, das glaube ich.

II.
Aber da sind auch die Nachrichten aus der Ukraine und aus dem Kongo.
Aus Italien und den USA.
Tote durch Krieg, Unglück, Gewalt. Immer immer wieder. Es hört nicht auf.
Eine versprochene Osterruhe wird gebrochen.
Ein amerikanischer Präsident hat keinerlei Achtung vor dem Gesetz.
Die Opportunisten lachen sich gerade ins Fäustchen.
Wie ein Schleier legen sich diese Nachrichten über meine Osterfreude.
Über mein  Osterlachen.

Und trotzdem denke ich, fühle ich: Nein, jetzt erst recht!
Wenn Ostern nicht auch jetzt wahr ist, dann ist es nie wahr.
(Dass heute morgen der Papst gestorben ist,
nachdem er gestern noch den Ostersegen der Welt zugesprochen hat -
das könnte kaum passender sein, auch wenn sein Tod traurig ist.)

Ostern ist doch mehr als Frühlingssonne und Blumenrausch.
Ostern ist auch mehr als ein „Jetzt ist alles gut und das Leben geht weiter“.  
Aber was? Wie?

III.
Die Worte von Kaschnitz tragen mich weiter:
Glauben Sie fragte man mich

An ein Leben nach dem Tode

Und ich antwortete: ja

Aber dann wusste ich
Keine Auskunft zu geben

Wie das aussehen sollte

Wie ich selber

Aussehen sollte

Dort

Ich wusste nur eines

Keine Hierarchie

Von Heiligen

auf goldenen Stühlen sitzend

Kein Niedersturz

Verdammter Seelen

Nur

Nur Liebe frei gewordene

Niemals aufgezehrte

Mich überflutend
Kein Schutzmantel starr aus Gold

Mit Edelsteinen besetzt

Ein spinnwebenleichtes Gewand

Ein Hauch

Mir um die Schultern

Liebkosung schöne Bewegung

Wie einst von tyrrhenischen

Wellen

Wie von Worten die hin und her

Wortfetzen

Komm du komm

Schmerzweb mit Tränen besetzt

Berg- und Talfahrt

Und deine Hand

Wieder in meiner

So lagen wir 

Lasest du vor - Schlief ich ein - Wachte auf

Schlief ein - Wache auf

Deine Stimme empfängt mich

Entläßt mich und immer

So fort

Mehr also, fragen die Frager

Erwarten Sie nicht nach dem Tode?

Und ich antworte

weniger nicht.


IV.
Und ich will eigene Worte dazu legen. Stammelnd. Suchend - wie Kaschnitz:
Auch mir fällt es leichter zu sagen, was das Leben nach dem Tod nicht ist:
Schüsse und Todesschreie haben da keinen Platz. Lügen auch nicht.
Da gibt es keine Atemnot und keine Chemotherapie.
Und die Frage: Hast du meine Liebe verdient?  Die wird dort nicht gestellt.
Meine Hände zittern dort nicht mehr - oder doch?
Ich höre dort bestimmt kein „das kannst du ja sowieso nicht“.

V.
Aber ich will mehr als das.
Ich will alles verstehen, was ich jetzt nicht verstehe.
Ich will meine Mutter und meinen Onkel wieder in die Arme schließen
und ihnen sagen, was ich versäumt habe, zu sagen:
Wie dankbar ich ihnen bin und dass ich ohne sie nicht die wäre, die ich bin.
Ich will mich wieder mit meiner Schwester versöhnen und alle Gedanken mit ihr teilen.

Ich will Erdbeeren und Spargel in allen Variationen und alle Gedichte auswendig können.
Neue Wortschöpfungen will ich erobern.
Und die schönste Musik des Himmels hören -
eine geniale Mischung aus Bach und Lord of the Lost und Coldplay vielleicht.
Und selber alles laut mitsingen.

Ich will Fingerspitzen auf meiner Haut spüren, die mir sagen, wie einzigartig ich bin.
Und ich will mit meinen Freunden voller Leidenschaft diskutieren - 
bis tief in die Nacht.
Wir werden nicht müde und wissen, dass wir alle Recht haben.
Wir sind uns einig, dass man Abendmahl auch mal mit Süßigkeiten feiern kann
und trotzdem gefällt es uns mit Brot besser.
Meine kranke Freundin ist gesund wie früher
und meine jesidischen Freunde wissen, dass sie hier endlich sicher hier leben können.
Mit meinen jüdischen und muslimischen Freunden feiere ich ausgelassen
den Frieden in Israel und Palästina. Ach, das wäre himmlisch.

Ich will mit Kindern und Alten in allen Sprachen und Farben lachen und spielen.
Ich will tanzen und meine Füße tun mir nicht weh.
Ich will mich drehen und mir wird nicht schwindelig.
Ich will Felsen erklettern und fliegen und mich dabei ganz leicht fühlen.
Und der Tod ist ein alter Freund, mit dem ich ab und zu im Gras liege
und wir schauen uns die Wolken an und entdecken ihre Formen und Farben.
Wir wissen, dass sie Teil der Ewigkeit sind und darum lassen wir sie ziehen.
Alles ist gut. Und ganz.
Und Frieden. Ja, alles ist Frieden.

VI.
Glauben Sie fragte man mich

An ein Leben nach dem Tode

Und ich antwortete: ja



Und ich höre dazu Worte von Jesaja:

Und der Herr Zebaoth wird auf diesem Berge allen Völkern ein fettes Mahl machen,
ein Mahl von reinem Wein, von Fett, von Mark, von Wein, darin keine Hefe ist.
Und er wird auf diesem Berge die Hülle wegnehmen,
mit der alle Völker verhüllt sind,
und die Decke, mit der alle Heiden zugedeckt sind.
Er wird den Tod verschlingen auf ewig.
Und Gott der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen 
und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen;
denn der Herr hat's gesagt.


VII.
Ich glaube, Jesaja und ich werden gute Freunde.
Eine große Sause bis in die Puppen.
Richtig richtig gutes Essen. Menschen aus nah und fern.
Und nichts mehr, was uns trennt.
Kein Schleier, keine Decke, - alles klar und offen.
Liebevolle Berührung. Zärtliches Tränenabwischen.
Gott reicht mir das Taschentuch und nimmt mich in den Arm.
Und die Gedemütigten werden aufgerichtet.
Leben nach dem Tod.
Maßloser Himmel.
Liebe pur.

VIII.
Und jetzt? 
Da ist die Lücke zwischen jetzt und dann.
Und die tut verdammt weh.
Die wird immer sein. Da wird immer was fehlen.

Darum klammere ich mich daran, dass Jesus bereits auferstanden ist.
Und ich bin überzeugt, dass Gott ihr Versprechen wahr macht:
Der Tod ist nicht das Ende. 
Auch für mich gibt es ein Leben danach.
Und was nach dem Tod kommt, ist so großartig, dass es mich beflügelt.

Ja, dieses Danach, das blitzt jetzt in mein Leben hinein.
Aller Unmenschlichkeit und Gewalt zum Trotz.
Der Auferstandene ist bei mir und lässt sich nicht mehr vertreiben.
Das Schweißtuch ist zusammengelegt. Es wird nicht mehr gebraucht.
Das Osterlicht ist da.  Und es blitzt herein. Jeden Tag.
Jesus sprach mal vom Sauerteig und vom Senfkorn,
die das Himmlische sichtbar machen.
Er brach Brot, damit wir den Himmel schmecken
und die Liebe bereits jetzt leben.

IX.
Also schau ich genau hin und achte auf die Osterlichtmomente.
Die kleinen Lichtfunken, die ich so leicht übersehe.
Die Freundin, mit der ich mich über hunderte Kilometer hinweg, verbunden fühle.
Der abendliche Chat mit einem Freund.
Die schamlos blühende Glyzinie vor meinem Fenster
und der wilde Tanz in der Küche beim Kochen.
Die mutigen Menschen hier in Pforzheim, die sich nicht einschüchtern lassen,
sondern beharrlich an einer gast- und menschenfreundlichen Stadt arbeiten.
Und das gemeinsame Gebet in alle vier Himmelsrichtungen auf dem Wallberg
am Ostermorgen. Wolkenleicht und erdenschwer.

In alledem spüre ich das, was noch kommen wird.
Das wird dann viel schöner und strahlender sein und ganz anders auch.
Und leichter.
Aber es trägt mich schon jetzt. Beflügelt. Macht mir Mut zum Leben.

Sie ist da, die Liebe  -
frei geworden
e
Niemals aufgezehrt  
Mich überflutend

Mehr also, fragen die Frager

Erwarten Sie nicht nach dem
Tode?

Und ich antworte

weniger nicht.


Auch nicht für jetzt.
Amen.


*Ich habe diese Predigt so ähnlich vor 6 Jahren gehalten und sie nun aktualisiert.

Samstag, 19. April 2025

Nur noch das Kreuz - es ist alles

Predigt an Karfreitag zu Johannes 19

(mit Anleihen an meine Predigt von vor 4 Jahren und in Teil 3 an Formulierungen von Anna-Luise Amthor und Melanie Pollmeier - DANKE!!)



1.

Er trägt selber das Kreuz - hinaus aus der Stadt.
Niemand hilft ihm.
Hier bei Johannes ist kein Simon von Kyrene wie bei Matthäus.
Hier muss Jesus das Kreuz, das ihm den Tod bringt, selber tragen.
Allein.
Ausgeliefert.
Pilatus hat ihn ausgeliefert. Der römische Statthalter.
(Und auch wenn Johannes ihn weichzeichnet und als Unschuldigen darstellt: er ist es nicht. Er hat das Urteil gesprochen.)
Ausgeliefert den religiösen Gegnern. Dem Volk. Den Soldaten.
Ausgeliefert an die Welt. Von Pilatus und allen Tyrannen dieser Welt.
Dem Spott ausgeliefert und dem Mobbing. Dem Neid und dem Hass.
Ausgeliefert der Willkür. Des Spiels mit der Macht. Von einem, der die Macht hat.
Wer ausgeliefert wird, hat keinen Einfluss mehr darauf, was mit ihm passiert.
Kann sich nicht wehren. Ist machtlos. Trägt sein Kreuz selber.
In den Gefängnissen dieser Welt. In den Folterkammern. Auf den Hinrichtungsplätzen.
Ausgeliefert den Tiefen des Mittelmeeres, dem Gefängnis in El Salvador oder den Bomben auf die eigene Stadt.
Ausgeliefert an die Gleichgültigkeit, die Angst, der Verzweiflung.

Man könnte meinen, dass es ein Gottloser ist, der hier ausgeliefert wird.
So wie wir urteilen über Abgeschobene, Gefangengenommene, Bestrafte, Erschossene.
Aber es ist kein Gottloser. Es ist Gott selbst, der sich ausliefern lässt.

Gott lässt sich von einem König in das Dorf Bethlehem schicken.
Sie lässt sich die Tür vor die Nase schlagen: hier ist kein Platz für dich.
Gott lässt sich in einen Futtertrog legen. Er lässt sich in die Flucht schlagen.
Gott lässt sich abführen und bespucken, verleugnen und verraten.
Lässt sich foltern und ans Kreuz schlagen.
Gott lässt sich ausliefern.

Gott hat sich als Mensch ausgeliefert.
Ganz und gar. Ohne Abstriche.
Und trägt das Kreuz selber. Ein menschlicher Gott. Ein leidender Gott.

2.

Er trägt sein Kreuz selber. Nackt und bloß. Geschlagen und geschunden.
Ohne Mantel. Den haben die Soldaten und spielen um ihn.

Jesus ist für sie uninteressant geworden.
Er zählt nicht mehr. Eine Nummer. Mehr nicht.
Was er hat, ist interessant, nicht was er ist.
Dass da eine Mutter ist, die um ihn weint - eine Freundin, die um ihn trauert.
Dass er liebt und geliebt wird.
Dass er Träume hat und Hoffnungen.
Dass er leben will.
Lieben. Lachen. Tanzen. Umarmen. Glauben. Weinen. Staunen. Zweifeln. Sich freuen.
Das alles interessiert nicht.

Man blendet aus, dass hier ein konkreter Mensch stirbt.
Rückt von ihm ab. Weicht aus.
Wir können sowieso nicht alle aufnehmen, sagen manche über die Flüchtlinge.
Selbst denen wir es versprochen haben: was soll’s?
Die Toten in Myanmar - wer kann sie schon zählen.
Die vielen Namenlosen, die sich nun vor der amerikanischen Polizei verstecken müssen.
Die vielen Kinder, die in christlichen Heimen misshandelt wurden.
Die vielen Familien in den Trümmern dieser Welt.
Zahlen. Nummern. Wenn überhaupt.

Jesus ist heute die Nummer 3. Wird in die Mitte platziert. Da hängen schon 2 andere.

3.

Einer von vielen. Uninteressant.
Aber der Mantel ist für die Soldaten interessant.
Denn er ist wertvoll. In einem Stück gewebt.

Die Geschichte dieses Mantels interessiert sie nicht.
Das Gewand, das Jesus durch die Jahre begleitet hat, als er durch das Land zog.
Auf dem Stoff hatten Kinder gesessen, wenn er erzählte.
Der Saum war feucht geworden vom Wasser des Sees.
Der Staub der langen Wanderungen hatte sich in den Fasern festgesetzt.
Jesus hatte sich darin zusammengerollt,
als er im Rumpf des Schiffes schlief, während draussen ein Sturm tobte.
Er wurde berührt von der seit Jahren menstruierende Frau,
unrein und ausgestossen, und sie ersehent Heilung.
Der Mantel riecht noch nach Fisch und nach dem Rauch des Feuers am Abend.
Und nach der Liebe seiner Mutter Maria, die ihn wohl einst webte. 
Alles, alles in diesem einen Stück Stoff, ein Kleid der Liebe und des Lebens,
ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück.

4.

Jesus hat diesen Mantel nicht mehr, sondern nur noch das Kreuz.

„Nur“ - ach, wenn es nur ein "Nur" wäre.
Aber das Kreuz ist alles.
Alles Leid, alle Kälte, aller Hass, alle Angst.
Alle Tränen. Alle Einsamkeit. Alle Wut. Alle Ohnmacht. Alle Sinnlosigkeit.
Alles das trägt Jesus.
Und er erträgt, was keiner ertragen kann, aber viel zu viele ertragen müssen.
Jesus weint die Tränen der gedemütigten Kinder
Jesus klagt mit palästinensischen und israelischen Müttern und Vätern.
Die Schläge der Peiniger im großen Gefängnis in El Salvador graben sich in seine Haut.
In Stich gelassen schleppt er sich weiter wie die afghanischen Frauen.
Mit dem Kreuz.

5.

Jesus hat nur noch das Kreuz.
Aber am Ende ist Jesus nicht allein.
Und das ist für mich das Tröstlichste an dieser Szene.
Der Gottverlassene ist nicht verlassen.
Denn da sind die anderen, die ihn lieben.
Die Marias, die Mutter von Jesus und der eine von den Freunden ist auch da:
er steht Jesus besonders nahe.

Sie stehen da - fassungslos, voller Angst, verzweifelt, todtraurig.
Aber sie stehen für ihn da. Lassen ihn nicht in Stich.
Folgen seinen Spuren. Tragen seine Liebe weiter.
Leiden mit ihm. Trauern um ihn. Sind an seiner Seite.
Und sie stehen zusammen da. Und auch darauf kommt es an.
Der Sterbende spricht zu ihnen:
Ihr gehört zusammen. Bleibt beieinander.
Tragt zusammen, was für eine allein zu schwer ist.
Sein Liebesmanifest im Tod. Seine Botschaft am Kreuz.
Die Liebe hört nimmer auf.
Ihr seid nicht allein. Ich bin bei euch. Und ihr seid bei mir.

So bleibt beieinander und nehmt die Liebe mit.
Tröstet die, die um ihre Liebsten trauern. Nehmt sie in den Arm.
Bleibt beieinander und lasst euch nicht gegenseitig ausspielen.
Seid wachsam für die, die ins Nichts geschickt werden.
Lasst sie nicht in Stich. Auch wenn ihr gerade nicht mehr tun könnt, als da zu sein.
Unterm Kreuz. Für sie.
Sie brauchen euch. So wie Jesus euch braucht. Damit er nicht allein ist.


6.
 
Es ist vollbracht. Die letzten Worte von Jesus.
Vollbracht.
Ein Wort, das ich nie wirklich verstehe.
Will es mich vertrösten? Alles ist gut so? Alles soll so sein?
Kein Mensch kann das wirklich wollen. Und kein Gott.

Aber nun ist es da, dieses Wort: vollbracht.
Und ich schaue aufs Kreuz, das die Vertikale und die Horizontale zusammenführt.
Himmel und Erde und die ganze Welt.
Alles das kommt zusammen in diesem Kreuz und unter und an dem Kreuz.
Es ist vollbracht. Es ist alles.

Und ich schaue auf diesen Ausgelieferten und Gedemütigten,
auf den, der noch im Sterben Liebende zusammen bringt.
Er sorgt dafür, dass da welche beieinander stehen. Einander halten und stützen.
Dass sie in seinen Spuren weiter gehen.
Sein Tod reißt nicht auseinander, sondern führt zusammen.

Dieses Kreuz führt Gott da hinein, wo es dunkel ist.
Wo nichts mehr ist. Wo alles auseinander bricht.
Wo wir an unser Ende kommen -
ausgeliefert und gedemütigt und nackt und voller Wunden und Narben.
Da ist Gott.
Bei den Müden und Erschöpften, den Verzweifelten und Ausgepowerten,
den Verprügelten und Kraftlosen und Eingesperrten - da ist er: der Liebende.
Er bleibt mit seiner Liebe. Er hält das aus, was ich nicht mehr aushalte.
Und er hält mich aus. Ist bei mir. Voll und ganz.


7.

Jesus trägt selber das Kreuz und stirbt am Kreuz und umarmt die ganze Welt.
Es ist vollbracht.
Dieses ausgelieferte, gedemütigte, nackte, liebende Leben ist vollbracht.
Da ist kein Makel und kein Scheitern, auch wenn die anderen das so sehen.
Es ist ganz. Ganz und gar. Es ist vollständig.
Wie das Gewand, um das die Soldaten würfeln.
Alles was vorher Liebe war ist immer noch voller Liebe.
Und die Liebe geht mit in den Tod. Sie bleibt.
Voll und ganz.

Amen.

Samstag, 12. April 2025

Hier ist der Mensch!

Viele Fragen und kaum Antworten, aber die Erkenntnis, dass die Wahrheit vor Augen steht, obwohl selbst die Bibel nicht frei von Unwahrheiten ist.....



Predigt zu Johannes 18,28 bis 19,5 (1)

(mit Dank an Gundula Meiner, Ann-Kathrin Kruse  und die "Predigtbuddies" für Anregungen und Ideen, die ich zum Teil übernommen habe - vor allem in den Teilen 2 bis 4.
Bild ist von Antonio Ciseri)

1.
Hier ist der Mensch!
Ist das die Antwort auf die vielen Fragen, die Pilatus stellt?
Die Antwort auf meine Fragen? Auf deine Fragen?
So viele Fragen, auf die keine Antwort kommt.
Hier ist der Mensch - ist das die Wahrheit, nach der Pilatus fragt?

Hier ist der Mensch!
Hier ist er. Bespuckt. Geschlagen. Ausgelacht. Verhöhnt. Gefoltert. Gekrönt mit Dornen.
Hier steht er. Ausgeliefert den Blicken, der Willkür, der Macht.
Hier ist er. In Stich gelassen von seinem besten Freund. Ins Visier der Feinde geraten.
Instrumentalisiert von allen, die von sich ablenken wollen.

2.
Hier ist der Mensch!
Ein Mensch, der vor einem römischen Gericht steht.
Ein Jude.
Angeklagt von den Oberpriestern dem Tempels:
Wieder so ein Aufrührer, der das ohnehin schon gebeutelte jüdische Volk
unter den lauernden Augen der römischen Besatzer in Gefahr bringt.
Den Römern reicht der leiseste Vorwand, um noch grausamer zuzuschlagen.
Er wird als neuer König gefeiert. Das ist gefährlich.
Nennt sich selber sogar „Sohn Gottes“.
Das erfüllte im Römischen Reich den Tatbestand des Hochverrats:
Einer „wie Gott“ zu sein, das durfte nur einer für sich beanspruchen:
der Kaiser des Römischen Reiches.
Kreuzigen ist die römische Methode, mit solchen Rebellen abzurechnen.
Was am Ende zur Anklage führte – heute ist das nicht mehr nachvollziehbar.
Klar ist nur:
Verantwortlich für das alles sind die römischen Herrscher,
nicht die Juden und Jüdinnen - wie Johannes es darstellt.
Dazu hatten sie gar kein Recht und keine Möglichkeiten.
Was bleibt, ist das Flehen: Schaffe mir Recht, Gott! (Psalm 43)(2)

3.
Hier ist der Mensch!
Und dieser Mensch wird von Pilatus gefragt: Was ist Wahrheit?
Und dann geht er wieder hinaus und sagt: Ich sehe keinen Grund, ihn zu verurteilen.

Der Evangelist Johannes beschreibt Pilatus mit dickem Weichzeichner:
Als einen maßvollen Richter, der die richtigen Fragen stellt. Als einen, der Jesus für einen harmlosen Querulanten hält.
Andere Quellen beschreiben Pilatus aber als brutalen, kaltschnäuzigen und grausamen Gewaltherrscher. Ein Autokrat, für den kein Gesetz zu gelten scheint – wie aktueller er kaum sein kann… Mit Aufrührern macht er gleich kurzen Prozess oder gar keinen. Ausgerechnet an seinen Namen erinnern wir Christinnen und Christen regelmäßig in unserem Glaubensbekenntnis: Gelitten unter Pontius Pilatus…..

„Was ist Wahrheit?“  Pilatus interessiert die Frage nicht wirklich. Der Schreibtischtäter mit der weißen Weste fällt das Todesurteil und lässt es vollstrecken, aus Lust an der Gewalt, aus politischem Kalkül, zur Abschreckung oder einfach, um diesen lästigen Juden loszuwerden. Populist ist er auch noch. Tut so, als ob er das Volk befragt.  Und macht sie alle miteinander lächerlich, die jüdischen Ankläger, den Juden Jesus, das Volk. Wahrheit und Gerechtigkeit werden dem Machterhalt geopfert.

4.
Was ist Wahrheit?
Wahr ist: Über Jahrhunderte wurde aus dieser Darstellung der Passionsgeschichte durch Johannes eine Anklage gegen das gesamte jüdische Volk. Die Beschuldigung als „Christusmörder“ wurde zur Rechtfertigung von Hass, Verfolgung und extremer Gewalt gegen Jüdinnen und Juden.
Oft wurde einfach vergessen: Jesus selbst war Jude!
Seine Jünger waren Juden. Und nicht „die Juden“ als Volk wollten seinen Tod, sondern eine Gruppe von religiösen Führern, die Angst um ihre Macht hatten. In einer Zeit, in der die ersten Christen sich von ihrer jüdischen Herkunft immer mehr entfernten und gleichzeitig nicht als Feinde Roms erscheinen wollten, war es politisch hilfreich, die Hauptschuld an Jesu Tod bei den jüdischen Führern zu verorten. So konnte man Jesu Hinrichtung als römisches Versehen deuten – und die ersten Christen standen nicht als Anhänger eines verurteilten Verbrechers da. Mit diesem christlichen Opportunismus nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Und hier steht er, der Jude Jesus, jahrhundertelang immer wieder neu bespuckt, gedemütigt, gequält, getötet - auch von Menschen, die an Jesus glauben.

5.
Doch es gab und gibt auch andere. Gott sei Dank.

Dietrich Bonhoeffer zum Beispiel. In 3 Tagen, am 9. April jährt sich zum 80. Mal sein Todestag. Im KZ Flossenbürg hingerichtet von den Nationalsozialisten, weil er mit anderen Christen und Christinnen gegen Hitler kämpfte. Einer der wenigen evangelischen Theologen damals, der erkannte, welches Unrecht den Juden und Jüdinnen angetan wurde und er kritisierte seine Kirche scharf dafür, dass sie sich nicht für die von den Nazis Verfolgten einsetzte. Er forderte, dass die Kirche die Opfer von Willkür und Unrecht nicht nur betreuen, sondern sich schützend vor sie stellen sollte - dass sie dem Rad in die Speichen fällt, also das Unheil aktiv stoppt und nicht nur zuschaut und abwartet. Nicht weil die Christen die bessere Politik machen würden, sondern weil es ihre Aufgabe ist, für die Verfolgten und Bedrohten einzustehen - die Stimme für die Verstummten zu sein, für die Entrechteten, die Minderheiten. Die Kirche ist nur dann die Kirche Jesu, wenn sie nicht für sich selber da ist, sondern für andere eintritt.

6.
Denn so ist Jesus.
Das wusste nicht nur Bonhoeffer, sondern laut Johannes sogar Pilatus, auch wenn er damit nichts anfangen konnte.
Jesus, der Mensch, der nicht für sich selber eintritt, sondern für andere.

Hier ist der Mensch!
Hier ist der Mensch, der die Liebe Gottes lebt und zeigt - mit Haut und Haaren und seinem ganzen Körper. Und das ist eine ganz andere Wahrheit als die von Mächtigen wie Pilatus und Trump, Putin und Erdogan und wie sie alle heißen. Die Wahrheit von Jesus ist eine ganz andere als die von dieser Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt. In der Wahrheit von Jesus führen keine Fake-News zu einer unmenschlichen Politik, die in Kauf nimmt, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und Kinder aus ukrainischen Hochhäusern gebombt werden. Nein, die Wahrheit von Jesus zerstört Lüge und macht frei, die Liebe zu leben. Sie stellt sich den Suchenden wie einem Nikodemus, auch noch mitten in der Nacht, sie nimmt dem Populismus die Steine aus der Hand und schützt eine Frau, die von der Mehrheit verurteilt wird. Sie lehrt, dass das Teilen satt macht und hält den Zweifler Thomas aus. Sie wäscht die Füße und schließt die Kinder in die Arme. Wer herrschen will, muss dienen. Das ist die Wahrheit Jesu.

7.
Hier ist der Mensch.
Sei ein Mensch.
Diesen Satz lernte der Sportreporter Marcel Reif von seinem jüdischen Vater, der den Holocaust überlebte. Sei ein Mensch. Bleibe menschlich und empathisch, liebevoll und aufrecht und ehrlich.

Sei ein Mensch, der nicht von außen zuschaut, wie Opportunismus das Leben von so vielen gefährdet. Nur weil eine angebliche Mehrheit will, dass mehr Geflüchtete abgeschoben werden sollen, akzeptiere das nicht einfach so. Schau genau hin, ob es wirklich die Lösung für unsere Probleme ist, was die sogenannte Mehrheit will, und widerspreche, wo es sich als Fakenews entpuppt.

Sei ein Mensch und bleibe menschlich, auch wenn du dafür ausgelacht wirst.
Sei ein Mensch und stelle dich an die Seite derer, die zum Sündenbock gemacht werden.
Lass sie nicht allein.

8.
Du kannst so ein Mensch sein, weil hier dieser Mensch Jesus für dich einsteht.
Da steht er mit seinem Purpurmantel und seiner Dornenkrone.
Gottes Sohn.
Und so wie er bist auch du Sohn und Tochter Gottes, Gottes Kind.
Wertvoll, geachtet, gesegnet von Gott.
Aufrecht stellst du dich den Anhängern von Pilatus, Trump, Putin und wie sie alle heißen entgegen,
Den Lügen und der Menschenverachtung schaust du ins Auge und lässt ich nicht beeindrucken.
Ja, du fühlst immer noch deine Ohnmacht, du hast auch Angst, aber du weißt, dass du nicht alleine bist. Tote und lebende mutige Menschen stehen dir zur Seite: die amerikanische Bischöfin Mariann Budde oder der Senator Cory Booker zum Beispiel, 25 Stunden lang entlarvte er die Lügen im Stehen. Oder Duzen Tekkal, die den Pforzheimer Friedenspreis bekommen hat. Menschen wie sie machen mir Mut. Und dir hoffentlich auch!

Aber vor allem: hier ist der Mensch.
ECCE HOMO.
Jesus, Mensch und Gottes Sohn.
Er steht da und ist da für dich.
Und für die ganze Welt.

(1) Johannes 18,28 - 19,5 (Übersetzung nach der Basisbibel)

Die Vertreter der jüdischen Behörden brachten Jesus zum Sitz des römischen Statthalters, dem sogenannten Prätorium. Es war früh am Morgen. Sie gingen nicht in das Prätorium hinein, um sich nicht zu verunreinigen, damit sie das Pessachmahl essen könnten.
Also kam Pilatus zu ihnen heraus und fragte:
»Welche Anklage erhebt ihr gegen diesen Menschen?«
Sie antworteten und sagten zu ihm:
»Wenn er nicht ein Verbrecher wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert.«
Da sagte Pilatus zu ihnen:
»Nehmt ihr ihn und verurteilt ihn nach eurem Gesetzbuch!«
Die Jüdinnen und Juden sagten zu ihm: »Es ist uns nicht erlaubt, einen Menschen hinzurichten.«
Dies geschah, damit das Wort Jesu erfüllt werde, mit dem er angekündigt hatte, auf welche Weise er sterben sollte.
Pilatus ging wieder hinein ins Prätorium, rief Jesus und fragte ihn:
»Bist du der König des jüdischen Volkes?« Jesus antwortete: »Ist das deine Meinung oder haben es dir andere über mich gesagt?«
Pilatus antwortete:
»Bin ich etwa ein Jude? Angehörige deines Volkes und die Hohenpriester haben dich mir ausgeliefert. Was hast du getan?«
Jesus antwortete:
»Mein Reich gehört nicht dieser Welt an. Wenn mein Reich dieser Welt angehören würde, würden meine Leute kämpfen, damit ich nicht der jüdischen Obrigkeit ausgeliefert werde. Mein Reich ist aber nicht von hier.«
Da sagte Pilatus zu ihm: »Bist du also doch König?«
Jesus antwortete: »Du sagst, dass ich König bin. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Alle, die der Wahrheit angehören, hören auf meine Stimme.«
Pilatus fragte ihn: »Was ist Wahrheit?«
Und als er dies gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Vertretern der jüdischen Obrigkeit und sagte ihnen:
»Ich sehe keinen Grund, ihn zu verurteilen. Es ist aber Sitte bei euch, dass ich euch zum Pessachfest jemand freilasse. Wollt ihr nun, dass ich euch den König des jüdischen Volkes freilasse?«
Da schrien sie wieder und sagten:
»Nicht ihn, sondern Barabbas.« Barabbas war ein Räuber.
Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn auspeitschen. Die Soldaten flochten einen Kranz aus Dornen und setzen ihn auf seinen Kopf. Sie zogen ihm ein Purpurgewand an, kamen zu ihm, sagten:
»Sei gegrüßt, König von Israel!«und gaben ihm Ohrfeigen.
Pilatus ging wieder hinaus und sagte zu ihnen:
»Hier bringe ich ihn zu euch hinaus, damit ihr erkennt, dass ich keinen Grund sehe, ihn zu verurteilen.« Jesus kam heraus und trug den Kranz aus Dornen und das Purpurgewand.
Und Pilatus sagte zu ihnen:
»Hier ist der Mensch.«

 (2) Psalm 43 ist der für diesen Sonntag maßgebliche Psalm. Und dieser Vers "Schaffe mir Recht" gibt dem Sonntag Judika seinen Titel.