Sonntag, 4. Oktober 2015

Aller Augen warten... - doch du siehst, was da ist

Predigt zu Markus 8,1-9 (Erntedank 2015)

Zu der Zeit, als wieder eine große Menge da war
und sie nichts zu essen hatten,
rief Jesus die Jünger zu sich und sprach zu ihnen:
Mich jammert das Volk,
denn sie haben nun drei Tage bei mir ausgeharrt und haben nichts zu essen.
Und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe,
würden sie auf dem Wege verschmachten;
denn einige sind von ferne gekommen.

Seine Jünger antworteten ihm:
Wie kann sie jemand hier in der Wüste mit Brot sättigen?
Und er fragte sie: Wie viel Brote habt ihr?
Sie sprachen: Sieben.


Und er gebot dem Volk, sich auf die Erde zu lagern.
Und er nahm die sieben Brote,
dankte und brach sie
und gab sie seinen Jüngern, damit sie sie austeilten,
und sie teilten sie unter das Volk aus.
Und sie hatten auch einige Fische,
und er dankte und ließ auch diese austeilen.

Sie aßen aber und wurden satt
und sammelten die übrigen Brocken auf, sieben Körbe voll.
Und es waren etwa viertausend; und er ließ sie gehen.

„Aller Augen warten auf dich, Herre, und du gibest ihnen ihre Speise zu seiner Zeit; du tust deine milde Hand auf und sättigest alles, was da lebet, mit Wohlgefallen.“ (wird gesungen)

I.
Aller Augen warten auf dich, Jesus.
Sie kommen zu dir, hoffen auf dich.
Die Augen von über 4000 Menschen.
Auf deine Zauberworte warten sie.
Auf Worte, die eine neue Welt auftun,
die neu hinsehen lassen und neu hinhören.
Aller Augen warten auf dich,
und die Ohren öffnen sich für dich
wie beim Taubstummen, den du geheilt hast.
Ja, es geht nicht nur um schöne Worte.
Sie wollen Neues schmecken, fühlen, riechen, spüren -
ganz handfest und mit der Zunge und den Fingern und dem Bauch.

Aller Augen warten auf dich,
denn sie vertrauen dir.
Speise zu rechter Zeit - für den Bauch und das Herz und die Seele.
Ja, darauf warten sie.
Und sehen.
Aller Augen sehen, wie du dich berätst mit deinen Jüngern und Jüngerinnen.
Sie sehen das Gras, auf dem sie sitzen.
Sie sehen den fast leeren Korb neben sich.
Die vierjährige Lea wühlt darin und sucht hungrig nach einem Brocken Brot.
Das wird nicht mehr lange reichen.
Und sie sehen die Blasen an ihren Füßen von dem langen Weg hierher.
Aller Augen warten auf dich,
dass du ihnen gebest ihre Speise zu seiner Zeit.



II.
Die Augen von vielen Tausenden warten auf Zauberworte.
Sie sitzen in den Flüchtlingslagern in der Türkei oder im Libanon
und hoffen, dass das Warten ein Ende hat.
Sie sitzen in den Hausruinen in Homs oder Aleppo
und werden die nächste Feuerpause nutzen, um zu gehen -
wie die anderen.
Sie warten auf das Endes des Krieges
und ahnen, dass sie noch lange warten müssen.
Und darum gehen sie dorthin, wo es sicher ist.
Kommen von ferne in unsere Stadt.

Ihre Augen warten auf eine neue Welt, eine Welt des Friedens.
Und sie sehen.
Sie sehen dankbar Menschen,
die an den Bahnhöfen Willkommenschilder hochhalten.
Sie sehen eine Kanzlerin, die „Wir schaffen das“ sagt.
Sie sehen Menschen,
die mit Decken und Kinderstiefeln vorbei kommen.
Sie sehen aber auch Polizisten,
die sie schützen müssen vor dem rechten Mob.
Sie sehen den jungen Mann neben sich mit der verletzten Seele:
der weiß nicht, wohin mit seinem Zorn und seiner Trauer.
Und vielleicht sehen sie sogar das Hakenkreuz,
das an ihrer Unterkunft geschmiert wurde.
Aller Augen warten auf dich,
dass du ihnen gebest ihre Speise zu seiner Zeit.


III.
Die Augen von vielen Deutschen warteten auf ihre Zeit,
auf diesen Zeitpunkt vor 25 Jahren.
Dass die Grenzen fallen.
Auch die inneren.
Es ging um mehr als das Begrüßungsgeld und die Bananen.
Gemeinsam essen können ohne Bespitzelung.
Gemeinsam feiern können ohne Visum.
Gemeinsam reden können ohne Zensur.
Gemeinsam an der Zukunft bauen.
Und sie kam die Zeit, ihre Zeit.
Aber nicht für alle war es die Speise, die sie brauchten.
Manche hatten das Gefühl, weniger Speise zu haben.
Und nicht alle aus dem Westen wollten teilen.
Können wir das noch nachempfinden?

IV.
Aller Augen warten auf dich, Jesus.
Und du sagst:
Mich jammert das Volk.

Ja, deine Augen schauen auf sie.
Auf die Wartenden und die Hungrigen.
Auf die Beladenen und die Fliehenden.
Auf die Suchenden und die Zweifelnden.
Auf die Sehnsüchtigen und die Ängstlichen.
Und es jammert dich.
Es macht dir was aus.
Du schaust nicht vorbei.
Denn du bist für alle da.
Auch für die Von-Ferne-Gekommenen.
Für Fatmir aus dem Kosovo: der möchte endlich als Koch arbeiten.
Für Bright aus Nigeria: der möchte nach 7 Jahren seine Familie wieder sehen.
Für Kefah aus Damaskus: sie möchte am liebsten wieder zurück.
Und für Heinz aus Rostock: er kommt mit seiner kleinen Rente nicht hin.

Gibst du ihnen ihre Speise zu ihrer Zeit?
Arbeit, Familie, Heimat, Rat?

V.
Aller Augen warten auf dich, Jesus.
Und sie sehen die ratlosen Gesichter deiner Jünger.
Und aller Ohren hören:
Wie kann sie jemand hier in der Wüste mit Brot sättigen?
Ja, wie, Jesus?

Ja, wie, Jesus?
Wie soll es gehen, dass Mauern nach über 25 Jahren wieder fallen?
Wie können Machthaber auf einmal auf Macht verzichten?
Wie kann der Krieg in Syrien ein Ende finden - und in Afghanistan?
Durch weitere Bombardierungen? Wohl eher nicht.
Wie können wir Boko Haram stoppen?
Und wie die Amokläufer?
Wie können wir zum Frieden beitragen statt zum Krieg?
Wie sollen wir so viele Flüchtlinge aufnehmen?
Wo sollen wir sie unterbringen?
Wie sollen unsere Behörden das schaffen? Wie unsere Polizei?
Wie sollen unsere Schulen all die Kinder aufnehmen?
Es sind viel zu viele.
7 Brote, was ist das schon?
Wir schaffen das nicht, Jesus.
Wir schaffen das nicht.

VI.
Aller Augen warten auf dich, Jesus.
Aber du lenkst unsere Augen auf das, was da ist.
Wieviel Brote habt ihr?
7 Brote und ein paar Fische.
Nicht mehr und nicht weniger.

Was habt ihr, fragst du.
Wir haben so viel hier in Deutschland.
Wir haben Wohnungen und Häuser.
Blumentöpfe und Gardinen vor den Fenstern.
Den Friseur um die Ecke und ein Auto vor dem Haus.
Weizen genug für alle und viel zu viel Fleisch.
Ja, wir haben genug zu essen.
Wir haben Schulen und jedes Kind darf dorthin gehen, egal ob Mädchen oder Junge.
Unsere Kinder müssen nicht arbeiten.
Sie dürfen spielen - auch draußen - und fragen nicht nach Religion oder Hautfarbe.
Wir haben Krankenhäuser und Sterbebetten.
Die meisten Menschen können arbeiten, manche arbeiten zu viel.
Wir haben Universitäten und Musikschulen,
wunderbare Kirchenmusik und jede Menge Bücher zuhause.
Auch wir haben Arme unter uns -
jedes Jahr in der Vesperkirche werden sie auch hier in der Stadtkirche sichtbar.

Aber:
Wir können leben!
Leben!
Leben ohne Grenzen,
leben ohne Angst vor Bomben.
Wir können lachen
und wir können weinen
und wenn eine Freundin stirbt, müssen wir das auch.
Wir haben so viel -
sogar den Abschied haben wir
und den Schmerz.
Auch der gehört dazu - wie die 7 Brote und die paar Fische.

VII.
Aller Augen warten auf dich, Jesus.
Aber du lenkst unsere Augen auf das, was da ist.
Seht, was ihr habt, sagst du.
Das ist nicht die neue Welt, nicht das Reich Gottes.
Aber in euren Augen und mit euren Händen kann es ein Teil davon werden.

Und dann tust du es, Jesus.
Du nimmst das, was wir haben, in deine Hände.
Du schaust mit den Augen der Liebe auf das, was da ist.
Und dann dankst du dafür.
Du dankst, gibst du es uns allen und wir teilen es.
Wie beim Abendmahl.
Und es reicht!
Ja, es reicht, obwohl es doch so wenig ist.
Eine Tür zum Reich Gottes.

7 Brote und ein paar Fische - das reicht.
Wir haben zu wenig Unterkünfte für die Einwanderer?
Schaut, was da ist.
Da sind doch Gemeindehäuser.
Vielleicht reicht es dann, erst mal. Auch wenn dann was ausfallen muss.

Wir haben zu wenig Begleiter für die Einwanderer?
Schaut, was da ist.
So viele Menschen in euren Gemeinden.
Vielleicht packen die mit an.
Und vielleicht reicht es dann, erst mal.

Wir haben Angst vor den Fremden, die hierher kommen?
Aber Gott kennt sie doch.
Lassen wir uns von ihm zu ihnen führen, damit wir sie kennenlernen.

Es sind zu viele? Wir zu wenige?
Es reicht, sagst du.
Sie sind gekommen. Und es kommen wohl noch mehr.
Aber Angst dürft ihr nicht haben.
Ihr habt doch 7 Brote und ein paar Fische.
Schaut, was da ist. Fangt an, sagst du.
Du sättigest alles, was da lebt, mit Wohlgefallen.
Uns wie die 4000 damals.

VIII.
Unsere Augen warten auf dich, Jesus.
Und du gibst uns Speise zur rechten Zeit.
Jetzt ist die rechte Zeit für die neue Welt.
Die Grenzen fallen immer noch - und das ist gut so.
Für das Reich Gottes gibt es keine andere Zeit.
Und das, was ihr habt, reicht noch für viel mehr.

So essen wir und teilen es untereinander.
Und mit den Menschen, die zu uns kommen.
Es reicht. Und alle werden satt.
Nicht wir schaffen das,
sondern du schaffst das, Jesus.
Du tust deine milde Hand auf
Und öffnest uns die Tür zur neuen Welt, zum Reich Gottes.
Wir brauchen nicht mehr zu warten.
Amen.

1 Kommentar:

  1. Das spricht mir aus dem Herzen. Schauen wir doch, was da ist. Wir haben nicht nur sieben Brote und ein paar Fische! Wir haben so viel mehr. Legen wir unsere Befürchtungen, die unseren Blick vernebeln beiseite, und schauen genau hin. Und nutzen unsere Möglichkeiten, lassen uns nicht von den Schwarzsehern und rechten Parolen beeinflussen. Mit Gottes Segen können wir so viel tun, so viel Gutes tun.
    Thomas Clotz

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